Dienstag, 20. Oktober 2009

zu wahr, um schön zu sein: HGich.T schwanken zwischen Goethe und Artaud

gelangweilt von den hilf- und phantasielosen rezeptionsversuchen nun ein statement zu HGich.Ts "der da vinci schock".

Fausts Höllentripmeister Eder
Für die einen ist die Performance Truppe HGich.T sinnfreier Untergang der Hochkultur und für die anderen der lang- und heißersehnte Befreiungsschlag vom Performance-Elitarismus. Versuch einer Erklärung.


Es ist keine Frage, HGich.T scheiden die Geister: Lärmend-nerviger Abgesang des Abendlandes oder aber unterhaltsame Theaterverweigerung mit analytischer Gegenwartskritik mit Neo-Faust´schem Ausmaß.
Tasten wir uns an das Phänomen HGich.T zunächst mit einer Beschreibung: Das Bühnenbild ist ein Goa-Wunderland von beinahe Meese´schem Ausmaß - mit deutlich geringerem Budget, versteht sich. Neon-Fäden spinnen Netze der Verwirrung, Pilzbilder, eine Staffelei, Leinwände, Neonfarbe in Tuben, eine Pyramide, ebenfalls mit Wollfäden bespannt. Alles leuchtet im Schwarzlicht. Ein Dixie-Klo steht in der Ecke. Erste Nebelschwaden. Hier wird eine Party zum Theaterhappening. Auftritt Samson, eine Mischung aus Druide und Elfe schleicht auf die Bühne. Er versteckt sich hinter seiner Laptop-Barrikade und drückt auf Play. Das wird er im Verlauf der Performance noch öfter tun, denn Samson ist der Rhythmus-Mann, der Pulsgeber des Ganzen. Jetzt betritt ein Mönch die Bühne/Party. Er spielt Harfen-Playback auf einem Wäscheständer. Der Haufen auf der Bühne entpuppt sich als Tutenchamun: Jenes Alter Ego, mit Vogelnestfrisur und Bauarbeiterweste, der im Tanzrausch dem Dasein ein bisschen Spaß abzutrotzen versucht - oder zumindest ein bisschen Rausch. Fans wissen Bescheid, Neu-Zuschauer erstmal nicht. Die Beats setzen ein und Tutenchamun vollführt einen Jugend-Abschiedstanz. Beinahe zeitgleich taucht Anna-Laura auf: der zunächst unscheinbare Protagonist des gesamten Wahnsinns, der da nun auf einen zurollt. Schnell wird klar: wir befinden uns in seinem Kopf, die anderen Performer sind Teile seiner Erinnerungsschnipsel, die der konsequente Drogenmissbrauch noch nicht aus seinem Hirn gelöscht hat. Wer seine Jugend auf Koppeln verbrachte und dort zu Techno und Trance abravte, der kennt die Charaktere, die HGich.T auf die Bühne knallen: das Goa-Mädchen, der zugedröhnte Dauertänzer, den abwesenden schüchternden Nerd und den zunächst unauffälligen, später total aggressiven Voll-Proll aus dem Nachbardorf.
Anna-Laura taumelt, schreit und stottert schwankend zwischen Selbstzweifeln und unkontrollierten Aggressionsschüben hin und her. Jedoch werden wir nicht Zeugen eines Schauspiels, das Drama um Anna-Laura ist kein Theater - es ist ein sich-selbst-gefährdendes Outing, eine Selbstentblößung der besonderen Art. Anna-Lauras Kampf um Aufmerksamkeit, seine Abscheu vor der Gesellschaft hat Faust´sche Züge. Allerdings ist hier der neue Proll im Fokus, nicht jemand aus der bürgerlichen Mitte oder gar der Oberschicht. In Anna-Lauras Alltagslyrik findet man Referenzpunkte zwischen RTL-geschultem Reality-Soap-Dilemma und gnadenloser gesellschaftlicher Zustandsdiagnose. Sicher dreht Goethe sich im Grabe um, würde man hier behaupten, die Sprach-Wahl sei vergleichbar. Aber dennoch hat Anna-Laura mit einigen gleichen Dingen zu kämpfen wie des Deutschen berühmteste Bühnenfigur: Die bisherige Lebensbilanz ein einziges niederschmetterndes Fazit, bei HGich.T Arbeitslosigkeit (Harz four), bei Goethe der zweifelnde Gelehrte. Beiden Gemeinsam die Verzweiflung und die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung. Des einen Mestopheles, des anderen Tripmeister Eder. Auf Droge kommen sie beide: Faust und Anna-Laura. Nur sehen die Räusche anders aus: Tutenchamun vollzieht die Tranceformation der Gewalt. Das Goa-Mädchen tanzt durchs Publikum und die gebräunte Frau im Skianzug malt auf die Leinwände. Das doppelte Gretchen? Die einen Zuschauer sehen Phalli, die anderen Schwänze - je nach Bildungsgrad und Wohlwollen. Wir werden Zeuge von Drogenexzessen, Polizeirazzien und einem gewalttätigen Vater. In der Darstellung dessen wird niemand geschont: kein Zuschauer, kein Performer kriegt hier eine Samthandschuh-Behandlung. Durch dieses Leben, diesen Höllentrip müssen wir gemeinsam durch. Das schaffen nicht alle bis zum Schluss. Auch Anna-Laura verlässt nach einer Schlägerei mit Tutenchamun die Bühne. Die Show geht weiter, der Rave ist noch lange nicht zu Ende. Die Nebelwand steht wie aus Beton im Raum, völlig isoliert irgendwo die Performer. „Künstlerschweine“ ertönt. Die Frau im Skianzug hört auf, mit den Bauklötzchen zu spielen und ergreift das Mikro. „Künstlerschweine, Künstlerschweine, ja ich breche euch die Beine, Künstlerschweine, Künstlerschweine, ich grab euch euer Grab heut Nacht noch“. Gretchen wehrt sich! Es reicht, das wäre so ein schönes Ende. Aber es wäre nicht der Radikal-Humor der HGich.Ts würden sie nicht doch noch weitermachen. Zu schön, um aufzuhören! Ein verstörendes Nachspiel muß her! Dafür sorgt Mark, der vorher eifrig auf der Bühne die Flüchtigkeit der Performance medial archiviert und drauf los knipst, was die Digitalkamera hergibt. Nun legt er die Kamera weg und versucht sich in einer misslungenen Boris-Becker-Imitation.
HGich.T lassen den Zeitgeist aus der Flasche und dekonstruieren munter das Theater. Mehr als eine Million You-Tube Klicks. Im Zuschauerraum neben verstörten Sinnsuchern eine handvoll junger Fans, die jeden Satz auswendig kennen - und breitwillig mitmachen. Bei allem, was da kommt.

Von Mein-Kopf-hat-ein-Gehirn-Sprechchören bis hin zur Raucher-Polonaise wird freudig und lustvoll mitperformt. Es finden sich auch jedes Mal Freiwillige, die sich eine Ohrfeige einfangen möchten. Ein uralter Theatertrick, der überraschenderweise immer noch hartgesottene Kritiker reinfallen lässt. Eifrige Theatergänger, die das beliebte Mit-Mach-Theater der Gießener Schule verinnerlicht haben, werden hier vor den Kopf gestoßen: selbst wenn man mitmachen möchte, weiß man nicht wie. Man bleibt seltsam außen vor, es gibt keine Identifikationsfigur, niemanden, der uns durch den Dschungel der Bezüge führt. Es bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen, wohin er schaut und was er tut. Mit Artaud im Kopf und Boal im Rücken wendet sich HGich.T gegen einen Katharsis-Begriff, der lähmend auf soziale Impulse wirkt. Dem Zuschauer wird kein All-Inclusive-Moral-Paket mitgeliefert, um nach dem Theaterkonsum ungestört in sein „privates Biedermeier*(1)“ zurückkehren zu können, sondern vor der Performance ist während der Performance ist nach der Performance - und die Ohrwürmer nimmt man frei nach Haus.
Austausch der Referenzsysteme: Kenntnisse der Boulevard-Themen, RTL-Shows, Goa-Kultur und beispielsweise der ersten akustischen Grindcore-Band „Happy Grindcore“ dienen des besseren und tieferen Verständnisses von HGich.Ts Schocktheater mehr, als grundlegende Einblicke in das ABC des postdramatischen Theaters. Man weiß nicht, ob man HGich.T gar die Lektüre von Artauds „Theater der Grausamkeit“ unterstellen darf. Aber gewisse ähnliche Ansätze kann man nicht leugnen: das Fehlen der logischen Handlung, das Unvorhersehbare, die Verweigerung der Illustration, der Glaube an Anarchie als Darstellungsform auf der Bühne, Sinn durch Chaos. Kurz: Theater im Dienste einer neuen Daseinsform. Einer Daseinsform voller Chaos, Negation und dem schweren Duft der Anarchie. Text, Sprache, Bewegung, Performer bilden keine suggestive Einheit, das Spektakel der Inszenierung steht im Mittelpunkt. Anna-Lauras Brachial-Lyrik verballhornt unsere Konsumkultur, unsere Privat-Fernseh-Mentalität und rebelliert gegen unsere Zivilisation.
Theater und kein Double: HGich.T bringen keine Realität auf die Bühne, sie erschaffen eine Realität für sich - eine Verdoppelung der Wirklichkeit des Theaters im Artaud´schen Sinne. Die Grenze zwischen ästhetischem Wert und Unwert des inszenierten Geschehens ist nicht mehr nachvollziehbar. Der Alltag verliert seinen Realitätsanspruch. Einzig Anna-Laura könnte jetzt noch helfen, statt dessen bleiben wir mit einer Horde Performer uns selbst überlassen im Publikum zurück. Mark, alias Boris Becker, räumt das Feld, der Nebel ist immer noch eine undurchsichtbare Wand, das Goa-Mädchen verbeugt sich zum wiederholten Male und fordert Applaus. Tutenchamun taucht wieder auf. Er gibt eine Vollplaybacknummer zum Besten. Dann ist auch er weg - ebenso das Schwarzlicht. Goa-Wunderland wird fahl und grau. Der Nebel bleibt. Zu wahr, um schön zu sein.
(1) *frei nach Fahim Amir

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